Der südliche Annexbau

Bild Kirche und Dorf ca. 1965(heutige Sakristei)

Die Frage, zu welchem Zweck der südliche Turm der Kirche erbaut wurde, konnte bis heute nicht geklärt werden. Die Tatsache, dass der kleine Raum im Untergeschoss eingewölbt und der Annexbau zudem mit einem markanten Turmhelm versehen ist, schließt eine ursprüngliche Nutzung als Sakristei mit größter Wahrscheinlichkeit aus. Wozu sollte man einen Sakristeibau zweigeschossig ausführen? Das Obergeschoss des Südturms wird durch je einen schmalen Lichtschacht in der Ost-, Süd- und Westwand erhellt und ist lediglich vom Dachboden der Kirche aus zu erreichen. Der vorhandene Befund zeigt, dass es wohl immer nach oben hin offen war, da Ansätze einer oberen Geschossdecke fehlen. Es gibt auch keinerlei Anzeichen eines eventuell später vermauerten Türdurchbruchs oder einer Treppe, welche diesen Raum zugänglich machten. Eine Nutzung für Verteidigungszwecke scheidet mit großer Wahrscheinlichkeit aus, weil dazu der wesentlich höhere Westturm geeigneter war. Alles deutet darauf hin, dass der Raum im Obergeschoss wohl nie genutzt worden ist, sondern dass dieses Geschoss lediglich dazu diente, den Turmhelm zu tragen. Turm und Gewölbe sind aber beide als „Hoheitszeichen“ zu sehen, die darauf hinweisen, dass sich hier wohl ursprünglich eine besonders hervorgehobene, heilige Stätte befunden haben muss. Eine alte Volkssage erzählt, dass ursprünglich von zwei adeligen Stifterinnen und deren Bruder sogar eine dreitürmige Anlage geplant gewesen, nach dem Tod des Bruders jedoch der nördliche Seitenturm nicht zur Ausführung gekommen sei. Diese Erzählung des Volksmundes ist wohl mit Sicherheit als eine nachträgliche Deutung zu verstehen, zumal die beiden vorhandenen Türme ja aus ganz verschiedenen Epochen stammen. Denkbar wäre es allerdings, dass eine adelige Familie diesen kapellenartigen Anbau, eventuell sogar mit einem Familienbegräbnis versehen, gestiftet haben könnte. Leider ist gerade für Leuscheid die Quellenlage extrem schlecht. Pfarrer Gottfried Müller (1825-1859) berichtet im Vorwort seines „Verzeichniß dessen, was im Archive der evangelischen Kirch zu Leuscheid an geschichtlichen Nachrichten vorfindlich ist“, dass bereits um die Mitte des 19. Jh. keinerlei Urkunden oder sonstige Nachrichten aus vorreformatorischer Zeit mehr im Archiv erhalten seien. Als Grund dafür gibt er an, dass das Archiv, welches sich in dem Raum der heutigen Sakristei befunden habe, der dort herrschenden Feuchtigkeit vollständig zum Opfer gefallen sei. Aus einem Visitationsbericht des Superintendenten vom 14. Oktober 1844 geht hervor, dass Müller hierin Recht hatte. Der Superintendent betont: „Das Gewölbe, in welchem bisher der Aktenschrank mit dem Kirchenarchiv gestanden hat,  ist so feucht und dumpf, dass die Wände ganz grün und alle Papiere mehr oder weniger vermodert sind.“  Es ist also durchaus denkbar, dass das Archiv schon lange, möglicherweise seit der Reformationszeit, hier untergebracht war und dass man diesen Raum gleichzeitig als Archiv,  Sakristei und Abstellraum nutzte. Dem Rat des Superintendenten, die noch vorhandenen Urkunden und Akten in Blechbehältern gesichert im Pfarrhaus unterzubringen, kommt Pfarrer Müller allerdings bezeichnenderweise nicht nach. Offenbar war das Interesse an Zeugnissen aus vorreformatorischer Zeit damals in Leuscheid nicht allzu groß.

Da wir aus schriftlichen Quellen nichts über die ursprüngliche Nutzung des südlichen Anbaus erfahren, suchen wir vergleichbare Kirchenbauten. Eine unmittelbare Entsprechung zum Leuscheider Südturm findet sich heute allerdings nirgendwo in der näheren Umgebung. Die Dorfkirchen des Mittelalters wiesen zwar häufig Annexbauten auf, von denen aber die wenigsten auf uns gekommen sind, da sie besonders stark vom Abriss bedroht waren, wenn sie im Laufe der Jahrhunderte baufällig wurden und ihr ursprünglicher Verwendungszweck nicht mehr unmittelbar einleuchtete. Auch der Leuscheider Südturm war 1852 bereits dem Untergang geweiht, wie aus Kostenvoranschlägen für die Renovierung der Kirche aus dem Jahre 1845 hervorgeht!

  • Die ehemalige Damenstiftskirche St. Mariä Himmelfahrt in Solingen-Gräfrath hat an der Südseite des Chores einen zweigeschossigen, achtseitigen Kapellenanbau des 15. Jh. (Katharinenkapelle). Auch dieser Annexbau diente bezeichnenderweise lange Zeit als Sakristei, bis er im Zuge von Restaurierungsarbeiten 1964 zur Taufkapelle umgestaltet wurde. Vermutlich befand sich in früheren Zeiten im Obergeschoss eine Reliquienkammer. In ihrem Aufsatz „Die Kirche als Marienheiligtum“ weist Irmingard Achter darauf hin, dass ein zentraler Raum, sei er rund, quadratisch oder polygonal, niemals willkürlich gewählt wurde, sondern in der Regel als Taufkirche, Mausoleum oder als Marienkirche diente.
  • Die zwischen 1400 und 1500 errichtete Wallfahrtskirche zu (Hennef-) Bödingen zeigt einen weithin sichtbaren, imposanten Chorturm. Der Chor ist kapellenartig ausgebildet und mit einem hohen, achtseitigen Zeltdach bekrönt. In dem bereits erwähnen Aufsatz weist Irmingard Achter auf die Bedeutung der Marienverehrung hin, die im hohen Mittelalter eine erhebliche Verbreitung gefunden hatte, insbesondere nach der Verkündigung des Compassionsfestes auf der Kölner Provinzialsynode von 1423. Die architektonisch besonders hervorgehobene Chorkapelle beherbergte in Bödingen das von den Pilgern in besonderer Weise verehrte Gnadenbild.
  • Die Kirche St. Severin zu Ruppichteroth nimmt mit ihrer im 15./16. Jh. errichteten Chorpartie, die ebenfalls einen markanten, von einem achtseitigen schlanken Helm bekrönten Chorturm aufweist, die Bödinger Formsprache noch einmal auf.

Zahlreich waren die Marienwallfahrtsstätten, die sich im 15. Jh. in der Nähe Leuscheids befanden. Neben Bödingen seien hier stellvertretend nur Marienthal und Hilgenroth genannt. Sollte der Leuscheider Annexbau ursprünglich ebenfalls eine Marienkapelle gewesen sein? Einiges spricht für diese Möglichkeit, zumal ja das Marienpatrozinium in diese Richtung weist. Noch zu Beginn des 16. Jh., kurz vor Einführung der Reformation, wurde für die Kirche ein neuer Marienaltar angeschafft, wenig später die Marienglocke. Zudem bestand in der Gemeinde die oben bereits erwähnte „Vikarie Beatae Mariae Virginis“, und es gab eine Bruderschaft „Unserer lieben Frau“ mit entsprechenden Renten und Besitztümern. Die Marienfrömmigkeit scheint also in Leuscheid durchaus gepflegt worden zu sein, ohne dass sich jedoch ein Gnadenbild oder irgendeine Form einer Wallfahrtstätigkeit nachweisen ließe. Dies könnte freilich damit zusammenhängen, dass die Quellen aus vorreformatorischer Zeit verschollen sind, und dass man später in der Reformationszeit von der Marienverehrung nichts mehr wissen wollte! Im Jahre 1845 war der Südturm mitsamt der Sakristei so baufällig, dass der damalige Communalbaumeister Court den Abriss als die kostengünstigste Lösung vorschlug. Erst ein „Allerhöchstes königliches Gnadengeschenk“ des Königs von Preußen versetzte die arme Leuscheider Landgemeinde in die Lage, den Turm renovieren und die Sakristei im Untergeschoss wieder herrichten zu lassen und somit ein besonderes Wahrzeichen Leuscheids der Nachwelt zu erhalten.